Strassen Geschichten von den Löwenbergen

Das Leben in Sierra Leone findet draussen auf der Strasse statt, und man fuehlt sich nie einsam draussen. Ich liebe das pulsierende Gefuehl, die impromptu Gespraeche, der Geruch von Rauch, Essen, Benzin, Schweiss und Parfum gemischt und die kreativen Anmachsprueche (hier eine kleine Auswahl: “Heute ist Internationaler Frauentag, ich muss eine internationale Verabredung haben. Kann ich dich zum Abendessen einladen?” oder “Ich mag dich. Du magst mich. Komm, wir gehen tanzen.” oder “Kann ich deine Nummer haben? Keine Angst, ich bin ein im Ausland lebender Sierra Leoner, ich werde dich nicht oft belaestigen.” oder “Du geniesst das Leben zu sehr, du musst endlich anfangen zu teilen. Ich bin bereit, es mit dir zu geniessen, Baby.”) Ich habe in den letzten Wochen begonnen, kurze Filme von Strassenszenen zu machen, weil das wohl den besten Eindruck von Sierra Leone vermitteln kann. Hier ein paar Geschichten dazu.

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Das Leben findet draussen statt  – Freetown Stadtzentrum

STRASSEN-GEBURTSTAG
Wie ihr sicher wisst, geniesse ich Geburtstagsfeiern sehr, je unterschiedlicher, desto besser (erinnert euch an Geschichten-Email Nummer 11…). Dieses Mal habe ich unter dem Motto “Geburtstag auf der STRASSE” gefeiert. Wir haben mit einem Sonnenuntergangsdrink auf der STRASSE am Strand gestartet, sind dann an die HauptSTRASSE in ein STRASSENrestaurant, das natuerlicherweise zu klein war, weshalb ich dann meine Geburtstagsrede von der STRASSE aus gehalten habe. Anschliessend sind wir an einen STRASSENmarket rund um das nationale Fussballstadium. Um hineinzukommen, musst du ein Eintrittsbillet kaufen, das zwei Meter weiter verrissen und an den Boden geworfen wird. Warum wurden dieses Billet ueberhaupt gedruckt, wenn dessen Lebensspanne gerade mal zwei Meter reicht, bevor sie auf der STRASSE landen?! Immerhin hat es zu meinem Geburtstagsmotto gepasst. 😉
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THANK ZOU JESUS – DANKE JESUS – für schöne Strassen!

KAPRY, KOENIG DER STRASSE
Ich benutze immer noch regelmaessig Okadas, Motorraeder, die importiert wurden von Indien, billig produziert fuer Entwicklungslaender. Bei diesen Okadas versagen die Bremsen regelmaessig, die Gangschaltung funktioniert zwischendurch mal nicht und die Spiegel werden verloren. Bevor mein Okadafahrer also einen Hang hinunter faehrt, frage ich zur Sicherheit nochmals schnell, ob seine Bremsen gerade anstaendig funktionieren, man weiss ja nie, und es ist mir doch schon einmal passiert, dass die Bremsen defekt waren, was dann doch etwas aufregend ist, diese ungestoppte Beschleunigung.
Mein persoenlicher Okadafahrer heisst Kapry, er ist Vizepresident der lokalen Okadafahrer-Vereinigung und sehr zufrieden mit seinem Leben, was ein angenehmer Kontrast ist zu den ueblichen Beschwerden, die man so hoert. Kapry lacht nie, wieso auch, er fragt mich: “Findest du nicht, ich sehe auch ohne Laecheln gut aus?”
Er ist DER puenklichste Sierra Leoner, den ich kenne, und besteht auf regelmaessige Uhrenabgleiche, um sicherzustellen, unsere Uhren zeigen exakt die gleiche Zeit. Wenn ich dann etwas zu spaet bin (und das ist fuer ihn 30 Sekunden und drueber), dann erhalte ich sofort einen Anruf. Ich habe mittlerweile einen schlechten Ruf bei ihm weil ich immer zu spaet bin und er findet ich bin afrikanischer als er.
Als ich gestern von Hill Station nach Hause wieder bei ihm auf dem Okada sass, und er mich durch den drueckenden Verkehr durschlaengelt, immer wieder beschleunigend und abbremsend, dabei fast einen Brotverkauefer auf der Strasse anfaehrt, ein Lastwagen umfahren muss und dabei auf den Fussgaengerstreifen ausweicht, erzaehlt er mir von seinem aelteren Bruder, der seit zwei Wochen vermisst wird. Er verliess das Haus “nur schnell” und kam nicht mehr zurueck, seine Frau und zwei Kinder sind am verzweifeln. Kapry hat alle Polizeistationen abgeklappert, alle Spitaeler und hat nun gestern stundenlang in der Totenhalle Leichen durchsucht. Er ruft mir dieses Geschichte durch seinen Helm und meinen Helm zu, in der Mitte der verkehrsreichen Strasse, und sagt, er ist bereit, seinen Bruder aufzugeben, er ist mehr besorgt ueber seine Schwaegerin, die nun in eine Depression hinein zu rutschen scheint.
Das Leben passiert und wird verarbeitet auf der Strasse, sowohl die guten Zeiten, also auch die schlechten.
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Kapry mit seinem Okada – Motorrad

Und ich bin mir sicher, die Strassen in eurem Quartier sind etwas leerer als hier, ich teile also gerne etwas: Downtown.

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